Autoren - Adventkalender 2019

Juli Zimmermann

Willkommen hinter meinem Türchen vom:

18.12

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Miro und der Weihnachtskater

Kleiner roter Weihnachts-KaterDie Schulglocke läutete und die Türen der Klassenräume wurden stürmisch aufgerissen.
Die meisten Kinder waren froh das der Unterricht für diesen Tag vorbei war und drängten nach draussen. Miro packte nur zögerlich seine Hefte und Stifte in den Schulrucksack, er hatte keine Eile.
Die Lehrerin wartete schon ungeduldig das er endlich fertig sein würde, sie wollte den Klassenraum abschließen. »Miro, nun beeil dich doch mal«, rief sie ihm zu.
Der trottete an ihr vorbei ohne aufzusehen, er ließ den Kopf und die Schultern hängen und man konnte ihm ansehen, dass ihn etwas bedrückte. Die Lehrerin fragte nicht nach, sie kannte die Antwort.

Miros Mutter hatte die Familie vor ein paar Monaten verlassen, völlig unvermittelt und lange wussten Miro und sein Vater nicht, wo sie sich aufhalten könnte. Dann hatte sie aber doch eine SMS an den Vater geschrieben, er hatte sie ihm vorgelesen. Sie hätte jetzt eine neue Familie und käme nicht mehr zurück, es täte ihr leid. Kein Gruß an Miro, nichts.
Miro verstand die Welt nicht mehr, er konnte es erst nicht glauben. Es war doch immer alles gut zu Hause, er hatte nicht bemerkt, das die Mutter unzufrieden oder gar unglücklich war.
Sicher, die Eltern hatten auch mal Streit, das kam ja überall mal vor, aber sie waren nie lange miteinander böse und versöhnten sich auch immer wieder.

Manchmal, wenn er sich besonders allein fühlte, fragte er sich ob die Mutter sich so sehr über ihn geärgert hatte. So sehr, das sie ihn nicht mehr sehen mochte. Denn er war natürlich ein ganz normaler Junge, der auch mal Unfug machte, dem mal eine freche Antwort heraus rutschte oder der sein Zimmer nicht aufräumen wollte. Dann wurde er noch trauriger, er hätte sich auch gern bei ihr entschuldigt, aber niemand wusste, wo genau die Mutter jetzt lebte.
Als er den Vater einmal fragte, ob man sie nicht suchen könnte, hat der fast einen Tobsuchtsanfall bekommen und Miro hat nie mehr einen Versuch gewagt.
Der Vater hatte sich sowieso sehr verändert. Anfangs lief bei den beiden noch alles recht geordnet, Vater ging zur Arbeit und Miro in die Schule, so wie immer. Wenn er keine Spätschicht hatte, kochte der Vater etwas, sie aßen zusammen und schauten fern. Ansonsten machte sich Miro selber eine Kleinigkeit zu essen und ging brav zu Bett, wenn die Zeit gekommen war.

Aber nach ein paar Wochen war der Vater immer öfter zu Hause, wenn Miro aus der Schule heim kam. Er saß dann meist im Wohnzimmer, der Fernseher lief und viele Bierflaschen standen auf dem Tisch. Der Aschenbecher quoll über und es war schlechte Luft in der ganzen Wohnung. Oder er lag auf der Couch und schlief tief und fest.

So war es auch an einem Tag Ende Oktober. Draussen war es trübe und nasskalt und als Miro die Wohnugstüre aufschloss, schlug ihm wieder einmal der dicke Zigarettenqualm entgegen. Er schlich sich direkt in sein Zimmer und warf dort seinen Rucksack in eine Ecke. Er war wütend auf den Vater, so wütend, das er ihn gerne angeschrien hätte. Aber das getraute er sich dann doch nicht.
Er sah sich kurz im Zimmer um, griff sich den Schlüssel vom Fahrradschloss und verließ auf Zehenspitzen die Wohnung. Er ging auf den Hinterhof, holte sein Rad und schob es durch den dunklen Hausflur. Als er die schwere Tür zur Strasse aufdrückte, wischte er sich noch schnell die Tränen mit dem Jackenärmel fort und schwang sich auf das Rad.

Miro überlegte, wo er heute hinfahren sollte, mittlerweile kannte er den ganzen Stadtteil schon sehr gut, denn er war oft unterwegs. Manchmal radelte er zum nahe gelegenen Park, da trafen sich immer einige seiner Klassenkameraden und hörten Musik oder spielten ein bisschen Fußball. Aber meist war ihm nicht nach Gesellschaft und er kurvte allein durch die Strassen.

An diesem Nachmittag schlug er die Richtung zur Deichbrücke ein, wenn man die übequerte, kam man in ein Waldstück oder ins Arboretum, oder man fuhr weiter bis zu den Schrebergärten, die es hier reichlich gab.

Mitten auf der Brücke, die den Oder-Spree-Kanal überspannte, machte Miro halt und beugte sich weit über das Brückengeländer. Ganz schön tief ging es da runter, aber wenn das Wasser ruhig war konnte man Schwärme von kleinen Fischen sehen. Ab und zu sprang auch mal ein größeres Exemplar ein Stück aus dem Wasser und machte Kreise beim abtauchen, die noch lange zu sehen waren.
Oft saßen Angler am Ufer, warfen ihre Ruten weit hinaus und warteten geduldig auf einen Fang. Oder Spaziergänger und Radler waren unterwegs, denn es gab hier gute Rad und Wanderwege.
Heute war kaum ein Mensch hier, das Wetter war auch nicht besonders einladend. Aber wie Miro so auf´s Wasser und Ufer schaute, entdeckte er etwas anderes, da unten bewegte sich etwas. Und obwohl Miro wirklich gute Augen hatte, konnte er nicht erkennen, was da war. Miro war neugierig und wollte nachsehen, also schob er sein Rad über die Brücke, bis zu einer Stelle, an der eine schmale, steile Steintreppe nach unten führte. Hier lehnte er das Rad gegen einen Baum und stieg hinab.
Langsam näherte er sich der Stelle die er von der Brücke aus gesehen hatte. Jetzt konnte er es erkennen, es war eine Katze. Sie hatte rotes Fell und eine blutende Wunde am Kopf. Sie lag auf der Seite und atmete nur schwach, als sie Miro bemerkte, wollte sie sich aufrichten. Aber es gelang ihr nicht, zu schwer war die Verletzung.

Miro ging in die Hocke und sah genauer hin, dabei sprach er beruhigend auf das Tier ein. »Mensch, dich hat´s aber übel erwischt.«
Er überlegte, was er tun sollte, hier liegen lassen konnte er sie ja wohl nicht. Er zog seine Jacke aus und wollte nach der Katze greifen, um sie hochnehmen zu können. Blitzschnell schlug sie mit der Pfote nach ihm und verpasste ihm einen ordentlichen Kratzer.
»Hey..ich will dir doch helfen«, schimpfte Miro entrüstet, »Hör auf damit, oder ich gehe wieder.«
Die Katze sah ihn nicht an, aber sie zog die Pfote zurück und verhielt sich ruhig.
Miro machte einen zweiten Versuch und hob das Tier behutsam auf seine Jacke, die er neben sich ausgebreitet hatte. Die Katze fauchte noch einmal vor Schmerz, aber sie wehrte sich nicht mehr.
So sanft es ihm möglich war, nahm Miro sie hoch und stieg mit seiner Last die Treppe wieder nach oben. Es war gar nicht so einfach, das Rad mit der einen Hand zu schieben und die Jacke, mit der Katze darin, im anderen Arm zu halten, aber Miro wollte erst einmal ein Stück weiter laufen und überlegen, was zu tun wäre. Ihm fiel ein, dass ganz in der Nähe ein Tierarzt seine Praxis hatte und er wollte schon fast umkehren und die Katze zu ihm bringen, aber dann dachte er, das er den Arzt auch bezahlen müsste und er hatte ja kein Geld.

So lief er weiter durch das Waldstück, immer geradeaus, bis die ersten Gärten in Sicht kamen.
Es war fast schon unheimlich hier, kein Mensch weit und breit, nur ab und zu ein Rascheln im Gebüsch, hier mal ein Vogel, der aufgeregte Töne von sich gab, ansonsten nur Stille.
Dann war auf einmal ein Mann auf einem klapprigen Fahrrad neben ihm. Miro wollte ihn vorbei lassen, der Weg hier war schmal, aber der Mann stoppte ab und schaute auf das Bündel in Miros Arm.
»Was trägst du da, ist sie verletzt?«, fragte er und Miro bemerkte, das er nicht gut deutsch sprach.
Miro antwortete nicht, drückte nur die Jacke mit der Katze darin etwas fester an sich. Der Mann streckte eine schmutzige Hand aus und betastete das Tier. Diesmal hielt sie ganz still und schnurrte sogar, als der Mann ihren Kopf genau besah.
»Sieht nicht gut aus«, murmelte er vor sich hin und sah Miro dabei nicht einmal an. »Komm, bringen wir zu mir«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Der Mann war Miro nicht geheuer und kurz überlegte er, ihm die Jacke samt Katze darin in den Arm zu drücken und davon zu laufen. Aber er wollte nicht feige sein, was konnte schon passieren und weglaufen könnte er später immer noch. Vielleicht konnte der Alte dem Tier helfen.
Der war schon weiter gelaufen, schob jetzt auch sein Rad und Miro folgte ihm.

Nach einer Weile kamen sie an ein Tor, gingen hindurch und einen gepflegten Weg entlang, bis sie vor einem niedrigen Gartenzaun standen. Der Alte öffnete die kleine Tür im Zaun und ging voraus, Miro folgte ihm. Mitten auf dem Grundstück stand eine kleine Gartenlaube, den Garten allerdings konnte man kaum als solchen bezeichnen. Überall lag etwas herum, Holzstapel, rostiges Zeug und Dinge, die wohl eher in den Müll gehörten. Ein paar verwilderte Beete gab es auch.
Der Alte hatte sein Rad an die Hauswand gelehnt und griff nun nach Miros Jacke. Der gab das Paket mit der Katze darin nur widerwillig her und passte scharf auf, was der Alte nun vor hatte. Der ging ins Innere der Laube und legte dort die Jacke mit Katze auf einen klapprigen Tisch. Überraschend behutsam wickelte er das verletzte Tier aus und besah sich noch einmal die Kopfwunde. Dann holte er aus einer Schublade eines windschiefen Schranks Verbandszeug und ein Töpfchen mit einer dunklen, stinkenden Salbe. Mit einem Lappen und klarem Wasser säuberte er zunächst die Wunde, tupfte sie sanft trocken und trug die merkwürdige Salbe in einer dicken Schicht auf. Mit geschickten Händen machte er dann einen perfekten Kopfverband und gab zu guter Letzt der Katze einen Kuss auf die rosafarbene Nase.
Miro hatte alles aufmerksam und staunend verfolgt, so viel Wissen und Sanftmut hatte er ihm nicht zugetraut.

Der Alte hatte inzwischen die Katze vorsichtig auf einer alten Decke in einer Ecke der Laube abgelegt und räumte Salbe und Verbände wieder an ihren Platz.
Miro überlegte, ob er sich bei ihm bedanken sollte, da sprach der Alte schon: »Musst du nicht danke sagen, habe ich gern gemacht«. Und dabei sah er Miro das erste Mal richtig an und lächelte sogar.
Der sagte erst einmal nichts, denn auch er schaute den Alten erst jetzt genauer an und erschrak ein wenig. Der rechte Mundwinkel, so wie das rechte Augenlid des Mannes hingen schief herunter, das machte sein Gesicht ziemlich hässlich, fast schon furchterregend. Jetzt als er lächelte, konnte man eine Reihe gelber Zähne sehen, mit einigen Lücken und sein Haar war schwarz und grau gesträhnt und stand ihm wild vom Kopf ab.
»Können Sie sagen, was der Katze wohl passiert ist?«, fragte Miro den Alten mutig.
»Bestimmt hat ihn Auto erwischt, Leute rasen auch hier draussen, auch in Wald und in Kolonie«, antwortete der.
»Warum sagen Sie ihn«?
»Ist ein Kater, hab ich gesehen, musst du ihm sagen einen Namen, jeder braucht einen Namen«, sprach der Alte und streckte Miro seine Hand entgegen. »Ich bin Alex, wie sagen deine Eltern zu dir?«
Miro sah den Mann kurz an und senkte dann den Kopf bis auf die Brust. Tränen traten ihm in die Augen, er wollte das garnicht, aber es passierte einfach.
Der Alte kam einen Schritt näher und legte den Arm um Miros schmale Schulter. »Jungchen, was habe ich gesagt, warum weinst du?«.
Miro wollte sich erst wegdrehen, was ging den alten Mann an, warum er weinen musste. Er wusste es ja selber nicht so genau. Er musste nur grad an früher denken, als die Mutter noch bei ihm war. Sie hat seinen Namen immer so liebevoll ausgesprochen, fast wie ein Streicheln fühlte sich das an. Niemand sprach mehr so mit ihm, er fühlte sich so allein.
Aber dann kamen die Tränen noch viel heftiger und er weinte und schluchtzte und der Alte hielt ihn ganz fest.
Eine Weile standen sie so, bis keine Tränen mehr kamen und Miro sich aus den Armen des Alten wand.
»Kann der Kater bei ihnen bleiben, ich darf kein Tier zu Hause haben?«, fragte Miro mit noch etwas belegter Stimme.
»Sicher, lass Katerchen hier bei Alex, er wird gesund, ganz bestimmt. Kommst du mal vorbei, ihn besuchen.«

Wenig später verabschiedete sich Miro von dem Alten und fuhr mit dem Rad den Weg zurück bis zur Brücke. Noch einmal hielt er kurz an und schaute über das Geländer hinunter auf´s Wasser, dann radelte er nach Hause.

Jeden Tag nach der Schule fuhr Miro nun zu dem Alten in den Garten und besuchte den kranken Kater. Alex gab sich alle Mühe mit dem verletzten Tier, aber die Wunde am Kopf wollte nicht recht heilen.
»Fürchte, wir brauchen Medizin«, sagte er zu Miro und machte dabei ein sorgenvolles Gesicht. »Gibt dein Vater dir kein Taschengeld?«
Miro schüttelte traurig den Kopf. Als die Mutter noch da war, hat sie ihm oft etwas Kleingeld zugesteckt. Der Vater dachte an so etwas nicht und Miro mochte nicht danach fragen.
Alex sagte: »Ich habe leider auch kein Geld, ich darf hier draußen in der Laube wohnen, weil ich keine Wohnung habe. Der Kleingartenverein duldet mich hier, so lange ich mich ordentlich benehme und wenigstens den Strom bezahle, den ich verbrauche. Darum bin ich jeden Tag in der Stadt unterwegs und sammle Flaschen. Oder ich helfe auf dem Marktplatz beim Auf- und Abbau.«
Miro tat der alte Mann leid, ohne richtige Wohnung zu sein, kaum genug Geld für Essen und Trinken zu haben, das musste sehr hart sein.
Er wollte versuchen, eine Lösung zu finden, das versprach er seinem Freund Alex, als er sich verabschiedete.

Miro hatte niemandem von Alex und dem Kater erzählt, warum auch. Die Schulkameraden interessierte das nicht, den Vater ganz sicher auch nicht. Der fragte nicht einmal, wo Miro die Nachmittage verbrachte.

Am nächsten Tag in der Schule konnte sich Miro noch schlechter als sonst auf den Unterricht konzentrieren. Mehrmals musste ihn Frau Müller, die Klassenlehrerin, ermahnen, weil er aus dem Fenster schaute oder Kreise in sein Schulheft malte, anstatt auf Fragen zu antworten. Nach der letzten Stunde bat sie ihn, noch im Klassenraum zu warten, während sie kurz ins Lehrerzimmer wollte.
Miro lehnte sich an den Lehrertisch und sein Blick fiel auf Frau Müllers Handtasche, die sie dort hatte stehen lassen. Ohne lange zu überlegen, griff er hinein, bekam ein schwarzes Portemonnaie zu fassen und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. Schnell drehte er sich um und wollte weglaufen, aber da packte ihn eine kräftige Hand und hielt ihn fest. Miro erstarrte und erkannte einen Jungen aus der Paralellklasse.
»Na Freundchen, was haben wir denn da? Die Lehrerin beklauen, na du traust dich ja was.« Nun bekam es Miro doch mit der Angst und er versuchte, sich aus dem Griff des Jungen zu befreien. Aber der packte nur noch fester zu und weidete sich an Miros Angst. Dann zog er ihn mit sich, den Flur entlang und über einen Hinterausgang aus dem Schulgebäude.
»Los, gib mal her«, forderte er Miro auf und der gab ihm Frau Müllers Geldbörse. »Na immerhin, fünfzig Euro«, sagte der Junge und steckte das Geld wie selbstverständlich ein. Miro wünschte sich in diesem Moment, er wäre größer und stärker wie dieser Kerl da vor ihm. Dann würde er sich nicht so einfach das Geld abnehmen lassen. Aber er hatte keine Chance und als er das erkannte, kamen ihm auch noch die Tränen. Teils aus Wut und Hilflosigkeit und teils aus Verzweiflung, denn für die fünfzig Euro hätte er beim Tierarzt bestimmt Medizin für den kranken Kater kaufen können.
»Och, jetzt heult der auch noch«, spottete der Junge, »was wolltest du dir denn schönes dafür kaufen?«
Miro kniff die Lippen fest aufeinander, kein Wort wollte er sagen, wofür das Geld gedacht war.
»Gib mir eine Antwort, du Schwachmaus«, drohte er nun.
Miro zitterte vor Angst, aber er verriet nichts.
»Los hau ab, du machst dir ja gleich in die Hose. Und wage dich nicht, irgend jemandem was zu sagen, ich prügel dich windelweich, wenn du mich in die Pfanne haust.«
Miro zweifelte nicht daran, dass er ernst machen würde und war froh, als er ihn losließ. Schnell verschwand er um die nächste Strassenecke.

Er überlegte, ob er erst nach Hause gehen sollte oder vielleicht gleich in die Gartenkolonie, zu Alex und dem Kater. Ob Frau Müller schon gemerkt hatte, dass ihr Geld gestohlen war? Miro wusste sehr genau, das er eine große Dummheit gemacht hatte, aber er wollte das Geld ja nicht für sich. Es sollte doch für Medizin sein und nun war alles umsonst. Ganz sicher würde es großen Ärger geben, wenn heraus kam, das er das Geld genommen hatte. Und Alex ist traurig, das sie dem Kater nicht helfen konnten.
Dann beschloss Miro, sich nach Hause zu schleichen, sein Rad zu holen und in die Kolonie zu fahren. Dem Vater würde bestimmt gar nicht auffallen, das die Schule längst aus war.

Als er wenig später in der Gartenkolonie ankam, fand er die Laube verschlossen vor. Er setzte sich auf die alte Holzbank, die vor dem Häuschen stand und wartete. Zum Kater konnte er auch nicht, denn der lag drinnen auf einer Decke, durch die Fensterscheibe konnte Miro ihn sehen. So saß er eine ganze Weile, bis endlich Alex am Zaun auftauchte, sein Rad durch das kleine Gartentor schob und es an die Holzwand der Laube lehnte.

»Ah, mein kleiner Freund Miro«, begrüsste er den Jungen freundlich und lächelte ihn an. »Ich war in der Stadt, hab Flaschen gesammelt, war nicht viel, leider. Aber habe ich neue Salbe bekommen, für Katerchen.« Er erzählte nicht, das er noch im Trödelladen war und sein Radio verkauft hatte. Und auch nicht, das er beim Tierarzt war, der ihm etwas gegen die Schmerzen des kranken Katers gegeben hatte. Und das der ihm dringendst geraten hatte, das Tier zu ihm in die Praxis zu bringen. Das versprach Alex dem Doktor, nachdem der ihm gesagt hatte, das er die Rechnung in Raten abzahlen könnte. Alex wollte gleich am nächsten Tag mit dem Kater kommen. Und dann wollte er Miro damit überraschen, ihm zu berichten, das der Kater gesund werden würde.
Miro machte ein bekümmertes Gesicht und Alex bemerkte es sofort. »Was ist los, Jungchen, hast du Ärger?« Miro hatte nie viel von zu Hause oder von der Schule erzählt, wenn er Alex und den Kater besuchte. Was hätte er auch erzählen sollen, das der Vater trank, die Mutter verschwunden war und er sich in der Schule deshalb schämte? Oder das er meist traurig war und eigentlich schon weglaufen wollte, hätte er nicht den Kater gefunden? Und das er nun auch noch Geld gestohlen hatte? Und jetzt liefen ihm auch noch die Tränen übers Gesicht, wie vor ein paar Tagen, als er, mit dem verletzten Kater auf dem Arm, Alex traf. Und wieder nahm der Alte Miro sanft in seinen Arm und Miro fing tatsächlich an zu erzählen. Als er fertig war, wiegte Alex besorgt den Kopf und sagte: »Du musst deiner Lehrerin die Wahrheit sagen, alles, hörst du? Sie wird böse sein und schimpfen, aber sie weiß doch, das du ein guter Junge bist. Bestimmt verzeiht sie dir. Man muss zu seinen Taten stehen.«
Inzwischen war es schon fast Abend geworden. Alex versorgte den Kater mit Medizin und Salbe und machte sich anschließend in der kleinen Küchennische zu schaffen. Auf einer elektrischen Kochplatte briet er ein paar Spiegeleier und schmierte Butterbrote dazu. Dann lud er Miro ein, mit ihm zu essen.

Unterdessen hatte Frau Müller, Miros Lehrerin, natürlich längst den Diebstahl ihrer Geldbörse bemerkt und konnte sich einen Reim machen. Schließlich hatte sie Miro allein im Klassenzimmer zurück gelassen. Sie ließ sich im Sekretariat die Telefonnummer von Miros Vater geben und rief auch gleich dort an. Niemand ging ans Telefon und so beschloss sie, sich persönlich auf den Weg zu machen, um mit dem Vater zu reden. Natürlich hätte sie sofort eine Anzeige erstatten können, es gab ja keinen Zweifel daran, dass Miro sie bestohlen hatte. Aber sie machte sich auch Sorgen, denn sie hatte ja mitbekommen, das in der Familie etwas nicht stimmte. In einem so kleinen Stadtteil blieb nichts lange verborgen. Und sie mochte den ruhigen Jungen und wollte wissen, wie es zu solch einer Tat kommen konnte.

Frau Müller klingelte lange an Miros Wohnungstür, bis endlich der Vater öffnete. Er musste geschlafen haben, die Haare waren zerzaust, Hemd und Hose hingen unordentlich an ihm und er roch nach Alkohol. Die junge Lehrerin ließ sich ihr Entsetzen nicht anmerken, stellte sich vor und fragte, ob sie ein paar Worte mit dem Vater sprechen könnte, es wäre wichtig. Der zögerte erst, gab aber doch den Weg in die Wohnung frei und ließ sie eintreten. Mit einem Blick konnte Frau Müller erfassen, das hier drinnen das Chaos ausgebrochen war. Es war schmutzig und unaufgeräumt, roch übel und wirkte sehr vernachlässigt. Auf dem einzigen freien Sessel nahm sie Platz und Miros Vater ließ sich auf die Couch fallen.

Nachdem sie von dem Vorfall nach Schulsschluss berichtet hatte, fragte sie, wo Miro wäre, denn sie wollte auch mit ihm noch einmal über alles reden. Der Vater musste eingestehen, das er nicht wüsste, wo sein Sohn sich aufhielt und Frau Müller konnte sich nun doch nicht verkneifen zu sagen, das sie das sehr schade fand. Der Vater nickte zerknirscht und erzählte nun auch noch, wie es dazu kommen konnte, das sein und Miros Leben so aus den Fugen geraten war. Als er endete wirkte er beinahe befreit, denn auch er hatte bislang mit niemandem darüber gesprochen, genau wie sein Sohn.

Frau Müller bedankte sich für das Vertrauen, das der Mann ihr entgegen gebracht hatte und versprach zu helfen, wenn sie konnte. Aber erst einmal müsste man den Jungen finden und sie überlegten gemeinsam, was zu tun wäre. Klassenkameraden wurden der Reihe nach angerufen, keiner wusste, wo Miro sich aufhalten könnte. Dann beschloss man, die Polizei zu verständigen, um Miro als vermisst zu melden. Frau Müller bat Miros Vater, sich etwas herzurichten und fuhr mit ihm zur nächsten Wache.
Dort beruhigten die Beamten die besorgte Lehrerin und den Vater, es sei nicht ungewöhnlich, dass Kinder mal weglaufen, die meisten von ihnen würden schnell wieder auftauchen. Dennoch wollte man die Augen offen halten und forderte den Vater auf, auch selber zu suchen, irgendwo musste der Knirps ja stecken.

Als sie das Polizeirevier gerade wieder verließen, winkte von der anderen Strassenseite ein Junge, den Frau Müller als einen ihrer Schüler erkannte. Er war relativ neu in der Klasse und seine Eltern nicht zu Hause, als man alle Schüler am Nachmittag angerufen hatte. Frau Müller ging zu ihm und fragte, ob er vielleicht wisse, wo Miro sein könnte.
Der Junge erzählte, das er Miro ein paar Mal gesehen hatte, wie der mit dem Rad in Richtung Oder-Spree-Kanal fuhr. Gefolgt war er ihm aber nie, er war noch recht schüchtern und wollte sich nicht aufdrängen. Die beiden Erwachsenen bedankten sich bei ihm und stiegen ins Auto.
»Lassen sie uns mal dorthin fahren« sagte der Vater mit ein wenig Hoffnung in der Stimme. Frau Müller nickte dazu und setzte das Fahrzeug in Bewegung.

An der Deichbrücke angekommen, stiegen die beiden aus und gingen zu Fuss auf die Brücke. Sie sahen sich aufmerksam um und entdecketen unterhalb, am Ufer ein paar Angler. Frau Müller winkte ihnen zu und rief laut: »Hat jemand von ihnen vielleicht einen Jungen, elf Jahre alt, gesehen?«
Drei der Männer schüttelten stumm die Köpfe, aber ein vierter rief zurück: »Ja, öfter schon. Der steht hier manchmal auf der Brücke und starrt ins Wasser. Dann fährt er weiter zu den Gärten, mehr weiß ich leider auch nicht.«
Miros Vater bedankte sich und sagte zu Frau Müller: »Das ist doch schon mal was, können wir dort hinfahren.« Wieder nickte die Lehrerin und man ging zurück zum Auto. Dann gings über die Brücke, am Arboretum vorbei und weiter gerade aus, bis dorthin, wo die Kolonien anfingen.

Inzwischen war es stockdunkel geworden, die Wege hier nicht beleuchtet und man musste schon sehr aufpassen, wohin man trat. Dazu war es auch ziemlich kalt geworden, bald würde es den ersten Frost geben. Langsam liefen die Beiden die Gangreihen zwischen den kleinen Schrebergärten ab. Wenn sie irgendwo einen Lichtschein sahen, blieben sie stehen und machten sich vorsichtig bei den Gartenbesitzern bemerkbar, erschrecken wollten sie niemanden.
Aber keiner konnte Auskunft geben.
Als sie beim letzten Gartengrundstück im letzten Gang ankamen, erkannte Miros Vater das Rad seines Sohnes, wie es an der Hauswand der Laube lehnte, direkt unter einer Aussenlaterne. Erleichtert und gleichzeitig besorgt, was der Junge hier zu suchen hatte, rief er in die Dunkelheit hinein Miros Namen. Irgendwo schlug ein Hund an, ansonsten blieb alles ruhig. Der Vater rief noch einmal lauter und jetzt öffnete sich knarrend die Tür der alten Hütte und ein Männerkopf mit strubbeligem Haar schaute heraus. Er legte den Zeigefinger an seine Lippen, winkte den beiden Menschen, die da in seinem Garten standen zu und ließ sie eintreten.

Miro lag auf einem Bett, bis zum Hals zugedeckt von einem dicken Federbett und schlief. Auf dem Boden, dicht dabei, lag eine rote Katze auf einer Decke. Sie hatte einen Verband um den Kopf und blinzelte nur kurz, als sie die fremden Menschen sah und schlief weiter. In einer Ecke stand ein alter Sessel, auf dem lag eine dünne Wolldecke, offensichtlich hatte der Alte dort geschlafen, weil er Miro sein Bett überlassen hatte. Frau Müller und Miros Vater sahen sich an und waren beide froh, den Ausreisser endlich gefunden zu haben. Der Alte war schon in den kleinen Anbau, der ihm als Küche diente, voraus gegangen und deutete auf einen wackeligen Stuhl und einen Küchenhocker, damit die beiden Platz nehmen konnten.

Und dann erzählte er, wie Miro und er sich kennengelernt hatten, nämlich durch den verletzten Kater. Und er sprach von der großen Traurigkeit, die Miro mit sich herum trug. Auch das, was er über den Diebstahl an Frau Müller wusste, erwähnte er und vergaß nicht, zu bedenken, das Miro sicherlich ansonsten ein guter Junge war. Der Vater ließ den Kopf immer tiefer sinken, er schämte sich plötzlich sehr. Schließlich hatte er von all dem nichts bemerkt, weil er sich in seinen Kummer vergraben hatte und Miro fast nicht mehr wahr genommen hatte.
Die Drei saßen noch lange zusammen, schließlich einigte man sich, dass Miro hier bei Alex auschlafen sollte und der Vater ihn am nächsten Morgen abholen würde. Die Lehrerin würde den Tag als entschuldigt ins Klassenbuch eintragen und Vater und Sohn sollten sich zusammensetzen und versuchen, einen Plan zu machen, wie es für sie beide weiter gehen sollte.

So geschah es dann auch. Als erstes suchte der Vater einen Arzt auf, der ihm helfen sollte, vom Alkohol zu lassen. Dann schloss er sich einer Selbsthilfegruppe an und lernte wieder, mit Problemen angemessen umzugehen. Miro ging nun regelmäßig zu einem Kinderpsycholgen, damit auch er Unterstützung bekam, mit der schwierigen Familiensituation leben zu lernen. Und er durfte natürlich weiterhin Alex besuchen, den der Vater und sogar Frau Müller ab jetzt mit Lebensmitteln und warmer Kleidung unterstüzten. Der rote Kater wurde zum Tierarzt gebracht und wurde unter dessen Obhut wieder ganz gesund.

Zu Miros großer Überaschung klingelte es am heiligen Abend an der Wohnungstür und Alex stand davor. Heimlich hatte der Vater ihn eingeladen, mit ihnen zu feiern. Wenig später klingelte es abermals, der Vater ging zur Tür und kam mit einem Katzenkorb zurück ins Wohnzimmer. Und dann sagte er: »Der Tierarzt wünscht uns allen ein schönes Weihnachtsfest.«

Miro bekam große Augen und als der Vater das kleine Türchen am Korb öffnete, stolzierte ein putzmunterer roter Kater hinaus und landete mit einem Satz auf Miros Schoss.

Ende

 



Über die Autorin:

Hund Emma von Julie Zimmermann

Juli Zimmermann
lebt mit ihrer Hündin Emma in einer Kleinstadt in Brandenburg.

Schreiben und Lesen haben ihr Leben schon immer begleitet, nun getraut sie sich, Kurzgeschichten im Autoren-Adventskalender zu veröffentlichen.

In ihrer Freizeit kümmert sie sich liebevoll um ihren kleinen Schrebergarten, hat kürzlich ihre eigene Schreibgruppe gegründet und arbeitet aktuell an einem Roman mit historischem Hintergrund.

Aus einem bewegten Leben und dank ihren vielseitigen Interessen, findet sie so immer wieder neuen Stoff für spannende Geschichten.

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Die kluge Maria

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